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„Lieferdienst“ von Tom Hillenbrand: Rasanter Thriller in einer dystopischen Zukunft

Tom Hillenbrands Lieferdienst ist ein dystopischer Thriller, der in einer nahen Zukunft spielt, in der Lieferdienste den Alltag der Menschen dominieren. In dieser Welt liefern Kuriere per 3D-Drucker produzierte Waren innerhalb von Minuten an ihre Kunden – koste es, was es wolle. Auf nur 192 Seiten baut Hillenbrand ein intensives Szenario auf, das mehr ist als eine simple Zukunftsvision. Das Buch ist nicht nur eine packende Geschichte über Macht, Konkurrenz und Überwachung, sondern auch eine scharfsinnige Analyse unserer modernen Konsumgesellschaft. Mit Lieferdienst entwirft Hillenbrand eine rasante und erschreckend realistische Zukunftsvision, die uns vor Augen führt, was passieren könnte, wenn der Drang nach sofortiger Befriedigung und Effizienz völlig außer Kontrolle gerät.

1. Die Welt von Lieferdienst: Hyperkonsum und Ressourcenverschwendung in einer dystopischen Zukunft

In Lieferdienst entwirft Tom Hillenbrand eine futuristische Welt, die auf den ersten Blick wie eine radikale Weiterentwicklung unserer heutigen Konsumgesellschaft wirkt. In Neu-Berlin, dem Handlungsort des Romans, dominieren Lieferdienste das Leben der Menschen. Was immer bestellt wird, egal wie banal, wird sofort per 3D-Drucker hergestellt und so schnell wie möglich ausgeliefert. Das Konzept des „Hyperkonsums“, das Hillenbrand hier einführt, ist der Schlüssel zum Verständnis dieser Welt: Es beschreibt eine Gesellschaft, in der Produkte einzeln, in Sekundenschnelle und über alle Maßen konsumiert werden.

Diese Zukunftsversion geht jedoch weit über die reine Bequemlichkeit hinaus. Sobald eine Bestellung getätigt wird, beginnt ein erbarmungsloser Wettkampf zwischen den verschiedenen Lieferdiensten. Arkadi und die anderen Kuriere, die sogenannten „Bringer“, rasen auf Hoverboards durch die Stadt, um die Bestellung als Erste auszuliefern – denn nur der Schnellste gewinnt. Was jedoch passiert mit den Produkten, die zu spät eintreffen? Diese gehen als Retoure zurück und geben einen Einblick in die massive Überproduktion und Ressourcenverschwendung, die die Welt von Lieferdienst prägt. Es wird angedeutet, dass diese Retouren recycelt oder erneut verwendet werden, aber ob dies tatsächlich der Fall ist, bleibt unklar.

Während Arkadi selbst zunehmend Zweifel an diesem angeblich nachhaltigen Kreislaufsystem hegt, wird auch der Leser dazu gebracht, sich kritisch mit den Folgen dieses Hyperkonsums auseinanderzusetzen. Die Idee, dass 3D-Drucker kontinuierlich Produkte herstellen, die oft gar nicht genutzt werden, erinnert an den realen Überfluss in unserer Konsumgesellschaft. Hillenbrand überzeichnet hier bewusst, um die Mechanismen unserer eigenen Welt zu hinterfragen: Wie viele Ressourcen verschwenden wir tatsächlich in unserem Streben nach sofortiger Befriedigung und maximaler Effizienz?

Neu-Berlin wirkt in dieser Zukunftsvision wie eine seelenlose, übertechnologisierte Dystopie, in der der Konsum längst nicht mehr rational oder notwendig ist, sondern zum Selbstzweck geworden ist. Das Bild von Drohnen, die die Stadt überwachen, und von Kuriere, die wie Soldaten um jede Bestellung kämpfen, verstärkt den Eindruck einer völlig entmenschlichten Gesellschaft. Hillenbrand führt uns hier vor Augen, wie der Drang nach schneller Lieferung und der Kampf um Marktanteile eine Gesellschaft formen können, in der der Mensch selbst nur noch als Konsument und Arbeiter existiert – und in der die Verschwendung zur Normalität wird.

Die Welt von Lieferdienst ist damit nicht nur ein futuristisches Setting, sondern auch eine durchdachte Kritik an unserer gegenwärtigen Konsum- und Wegwerfgesellschaft. Hillenbrand zeigt auf, wie der vermeintliche Fortschritt in eine Richtung gehen könnte, die mehr Schaden anrichtet, als sie Nutzen bringt. Der „Hyperkonsum“ ist eine Warnung vor der immer stärkeren Beschleunigung des Konsums – und die offene Frage, was wirklich mit den verschwendeten Ressourcen geschieht, hallt noch lange nach der Lektüre nach.

2. Arkadi: Ein Protagonist am Rande des Abgrunds

Im Zentrum der Handlung steht Arkadi, ein Kurier in der gnadenlosen Welt der Lieferdienste. Er ist keine strahlende Heldenfigur, sondern ein „Bringer“ wie jeder andere, gefangen in einem System, das auf Geschwindigkeit, Konkurrenz und Gewalt basiert. Hillenbrand schafft es, Arkadi als gebrochene Figur zu zeichnen, die sich zwar an das Leben als Kurier angepasst hat, aber gleichzeitig am Rand der Verzweiflung steht. Diese innere Zerrissenheit macht ihn zu einem faszinierenden Protagonisten, der zwischen Anpassung und Widerstand schwankt.

Arkadi verkörpert das Dilemma eines jeden, der in einem System arbeitet, das er selbst als fragwürdig empfindet. Er weiß, dass die Konkurrenz unter den Lieferdiensten brutal ist und er sich nur durch Skrupellosigkeit behaupten kann. Doch als er in die Ereignisse rund um den Tod eines Kollegen hineingezogen wird, beginnt er, die Machenschaften seiner eigenen Firma zu hinterfragen. Diese innere Entwicklung, von einem willenlosen Rädchen im Getriebe zu jemandem, der sich gegen die Mechanismen der Kontrolle auflehnt, wird von Hillenbrand spannend erzählt.

Durch Arkadis Augen wird dem Leser bewusst, wie gnadenlos das System ist, in dem er lebt. Die Lieferungen müssen pünktlich erfolgen, sonst droht der Verlust des Auftrags – eine Analogie zur realen Arbeitswelt, in der immer mehr Menschen unter enormem Leistungsdruck stehen. Hillenbrand nutzt Arkadis Geschichte, um aufzuzeigen, wie ein solches System Individuen verbraucht und zu bloßen Erfüllungsgehilfen reduziert. Arkadi ist nicht nur ein Opfer des Hyperkonsums, sondern auch ein Symbol für die Kämpfe, die viele Menschen in unserer modernen Arbeitswelt führen: immer schneller, immer effizienter, aber dabei zunehmend entwurzelt und entfremdet.

3. Eine gnadenlose Welt: Lieferdienste als moderne Kriegsführung

Eine der stärksten und erschreckendsten Ideen, die Hillenbrand in Lieferdienst entwickelt, ist die Militarisierung der Lieferdienste. In der Welt von Neu-Berlin kämpfen die Kuriere nicht nur um Marktanteile, sondern setzen dabei auch Waffen ein, um ihre Konkurrenten auszuschalten. Das Bild der „Bringer“, die auf Hoverboards durch die Stadt fliegen, bis an die Zähne bewaffnet, verstärkt den Eindruck, dass der Wettbewerb auf Leben und Tod ausgetragen wird. Die Welt der Lieferdienste ist in Hillenbrands Dystopie zu einem brutalen Spielfeld geworden, auf dem alles erlaubt ist, um die Oberhand zu gewinnen.

Die Rivalität zwischen den verschiedenen Lieferdiensten erinnert dabei an eine Form von moderner Kriegsführung, bei der Drohnen, Waffen und Spionagetechnologie eingesetzt werden, um den Feind zu überlisten. Hillenbrand gelingt es hier, eine erschreckend realistische Parallele zu unserer heutigen Geschäftswelt zu ziehen, in der Konkurrenzdenken und Profitmaximierung oft über allem stehen. Das Bild der Drohnen, die den Luftraum überwachen, und der Kurierteams, die sich gegenseitig ausschalten, zeigt die Absurdität eines Systems, das auf totale Effizienz ausgerichtet ist und dabei jede Menschlichkeit verliert.

Was Hillenbrand hier besonders gut gelingt, ist die Darstellung einer Gesellschaft, in der Gewalt und Konkurrenzdenken zur Normalität geworden sind. Die Bringer sind keine klassischen Helden, sondern eher Soldaten in einem endlosen Krieg um Lieferungen. Der Roman zeigt eindrucksvoll, wie dieser gnadenlose Wettbewerb die Menschen abstumpft und entmenschlicht. Gleichzeitig wird die Frage aufgeworfen, ob es überhaupt noch einen Ausweg aus diesem System gibt – eine Frage, die Arkadi im Verlauf der Geschichte immer mehr beschäftigt.

4. Tempo, Spannung und Stil: Hillenbrands erzählerische Meisterleistung

Einer der größten Stärken von Lieferdienst ist das rasante Erzähltempo, das perfekt zum Thema des Romans passt. Die Handlung ist geprägt von ständiger Bewegung, einem Gefühl der Rastlosigkeit, das sich sowohl in der Welt der Lieferdienste als auch im Schreibstil widerspiegelt. Hillenbrand schafft es, die hektische Dynamik der Lieferungen in eine Erzählweise zu übersetzen, die ebenso temporeich wie präzise ist. Langeweile kommt dabei nie auf – im Gegenteil: Der Leser wird von einer Spannung getragen, die den Roman fast atemlos wirken lässt.

Die kurzen Kapitel und prägnanten Dialoge verstärken dieses Gefühl der Schnelligkeit, das perfekt zur hektischen Welt von Neu-Berlin passt. Hillenbrand verzichtet auf überflüssige Ausschweifungen und bleibt immer dicht an der Handlung und den Charakteren. Diese stilistische Entscheidung macht den Roman zu einem intensiven Leseerlebnis, das vor allem durch seine Geschwindigkeit überzeugt. Gleichzeitig gelingt es Hillenbrand, trotz des Tempos wichtige Themen wie Überwachung, Entfremdung und die Abgründe einer kapitalistischen Gesellschaft zu verhandeln, ohne dass diese jemals den Lesefluss bremsen.

Was ebenfalls positiv auffällt, ist Hillenbrands Fähigkeit, eine komplexe Zukunftswelt zu erschaffen, ohne den Leser mit unnötigen Erklärungen zu überfordern. Die Details der Technologie, der Lieferdienste und der dystopischen Stadtlandschaft werden organisch in die Handlung eingebaut, sodass die Welt von Neu-Berlin fast mühelos zum Leben erwacht. Hillenbrands Stil trägt somit maßgeblich zur packenden Atmosphäre des Romans bei und macht Lieferdienst zu einem spannenden und zugleich nachdenklich stimmenden Thriller.

Fazit

Mit Lieferdienst hat Tom Hillenbrand einen nervenaufreibenden, futuristischen Thriller geschaffen, der seine Leser nicht nur durch seine rasante Handlung fesselt, sondern auch durch die scharfsinnige Reflexion unserer Konsumgesellschaft. Der Roman stellt die Frage, wie weit wir bereit sind zu gehen, um unsere Bedürfnisse immer schneller und effizienter zu befriedigen – und welche Konsequenzen dies für unsere Umwelt und unser Zusammenleben hat. Mit dem Konzept des „Hyperkonsums“ und der düsteren Vision einer militarisierten Lieferdienst-Welt hält Hillenbrand unserer Gegenwart den Spiegel vor und regt zum Nachdenken über die Zukunft an, die wir selbst gestalten. Ein absolut lesenswerter Roman für alle, die Spannung mit Tiefgang schätzen.

Zur Leseprobe beim Kiwi-Verlag

Sandra Doods schreibt als Buchbloggerin unter dem Pseudonym Frau Pastell über Gegenwartsliteratur auf Instagram und ihrem eigenen Blog. Als Doktorandin forscht und schreibt sie aktuell im Bereich Digitalität und Literatur. Sie unterstützt als Lektorin für Abschlussarbeiten Studierende dabei, ihre wissenschaftlichen Arbeiten sprachlich und inhaltlich zu optimieren. Ihr Studium der Fächer Deutsch und Psychologie an der TU Dortmund hat ihr dabei geholfen, ein tiefes Verständnis für die menschliche Psyche und Sprache zu entwickeln, das sie in ihrer Arbeit als Lektorin, Doktorandin und Buchbloggerin einsetzt. Als Teil der Bloggerjury des Literaturpreises "Das Debüt" engagiert sich Sandra Doods aktiv für die Förderung angehender Autorinnen und Autoren und unterstützt diese bei ihren ersten Schritten im Literaturbetrieb. In ihrer Freizeit liest Sandra Doods vor allem psychologische Romane und klassische Krimis. Neben ihrem literarischen Interesse beschäftigt sie sich mit der Programmierung von Apps und interessiert sich für interdisziplinäre Themen, insbesondere für die Verbindung von Literatur, Psychologie und Digitalität.

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