Rezensionen

Rezension: Die vergessliche Mörderin von Agatha Christie – Psychologischer Krimi voller Täuschungen

Agatha Christie zeigt mit Die vergessliche Mörderin einmal mehr ihr Gespür für raffinierte Spannung und psychologische Abgründe. Der Roman unterscheidet sich von ihren klassischen Whodunits, denn lange bleibt unklar, ob überhaupt ein Verbrechen begangen wurde. Stattdessen steht eine düstere, fast kafkaeske Atmosphäre im Mittelpunkt: Was ist Realität, was Täuschung? Und wie leicht kann jemand dazu gebracht werden, an seinem eigenen Verstand zu zweifeln?

Ein Kriminalfall ohne klaren Mord

Der Einstieg ist bereits ungewöhnlich: Eine junge Frau, Norma Restarick, sucht Poirot auf und behauptet, einen Mord begangen zu haben – nur um dann abrupt zurückzuschrecken. Sie mustert Poirot kritisch und bemerkt: „Sie sind zu alt.“ Diese Bemerkung trifft den berühmten Detektiv ins Mark. Während Poirot zunächst eher aus verletztem Stolz als aus echtem Interesse ermittelt, entspinnt sich schnell eine vielschichtige Geschichte voller Verdächtiger, falscher Identitäten und psychologischer Manipulation.

Der Roman verzichtet weitgehend auf klassische Ermittlungsarbeit mit Indizien und Zeugenaussagen. Stattdessen stehen Poirots psychologische Analysen im Vordergrund. Es geht nicht nur um die Frage, ob Norma tatsächlich einen Mord begangen hat, sondern auch darum, ob sie Opfer einer Verschwörung ist – oder gar beides.

Poirots verletztes Ego und brillante Deduktion

Hercule Poirot ist in diesem Fall nicht nur als Detektiv gefragt, sondern auch als psychologischer Analytiker. Besonders spannend ist die Art, wie Christie ihn mit seiner eigenen Unsicherheit konfrontiert. Die Bemerkung über sein Alter verfolgt ihn hartnäckig: Er betrachtet sich selbst im Spiegel, zweifelt an seiner Relevanz und hinterfragt seine eigene Wahrnehmung.

Doch wie immer beweist er, dass seine „kleinen grauen Zellen“ unübertroffen sind. Während andere sich in Vermutungen und Täuschungen verlieren, bleibt er analytisch und methodisch. Gerade in der Interaktion mit Norma zeigt sich sein Können: Er liest zwischen den Zeilen, stellt gezielt Fragen und entlarvt allmählich ein Netz aus Manipulation und Täuschung.

Seine Dynamik mit Ariadne Oliver sorgt dabei für einige humorvolle Momente. Die berühmte Krimiautorin ist herrlich exzentrisch, schlagfertig und oft chaotisch – doch genau das macht sie zu einer unersetzlichen Komplizin für Poirot. Ihre intuitive, manchmal wilde Art steht im Kontrast zu seiner logischen Vorgehensweise, und doch sind es oft ihre zufälligen Bemerkungen, die ihn auf die richtige Spur bringen.

Norma Restarick – Opfer oder Täterin?

Norma ist eine der interessantesten Figuren dieses Romans. Sie ist eine klassische unzuverlässige Erzählerin – nicht, weil sie absichtlich lügt, sondern weil sie selbst nicht weiß, ob sie der Wahrheit trauen kann. Ihre Wahrnehmung ist verzerrt, ihr Gedächtnis lückenhaft. Christie spielt hier mit einem psychologischen Motiv, das an Gaslighting erinnert: Norma wird von ihrem Umfeld verunsichert, ihr wird eingeredet, dass mit ihr etwas nicht stimmt.

Dabei bleibt lange unklar, wer sie manipuliert – oder ob sie sich vielleicht selbst täuscht. Sie schwankt zwischen Misstrauen und Vertrauen, zwischen Eigenständigkeit und Verwirrung. Ihre Zerrissenheit macht sie zu einer besonders glaubwürdigen Figur, denn sie entspricht keinem Klischee: Sie ist weder die naive Unschuldige noch die berechnende Femme fatale. Ihr Schicksal und ihre Unsicherheit treiben die Handlung voran und machen den Fall besonders vielschichtig.

Ariadne Oliver als „Deus ex Machina“

Ariadne Oliver, die charismatische Krimiautorin, ist mehr als nur eine Nebenfigur – sie übernimmt in diesem Roman die Rolle eines Deus ex Machina. Dieser Begriff stammt aus der antiken Dramentheorie und bezeichnet eine Figur oder ein Ereignis, das plötzlich in die Handlung eingreift, um eine scheinbar unlösbare Situation aufzulösen.

Genau das tut Ariadne Oliver: Sie bringt Poirot auf die Spur, liefert ihm unabsichtlich entscheidende Hinweise und lenkt die Ermittlungen in die richtige Richtung – oft auf eine fast zufällige, aber dennoch wirkungsvolle Weise. Ihre intuitive Herangehensweise steht im Kontrast zu Poirots methodischer Logik, doch genau diese Dynamik macht ihre Zusammenarbeit so reizvoll.

Ariadne Oliver dient aber nicht nur als Handlungstreiberin, sondern auch als metatextueller Kommentar auf das Krimigenre selbst. Sie reflektiert augenzwinkernd über die Erwartungen an klassische Detektivgeschichten und bringt eine humorvolle, selbstironische Note in den Roman.

Fazit: Ein ungewöhnlich psychologischer Christie-Krimi

Die vergessliche Mörderin ist kein klassischer Agatha-Christie-Roman mit einer eindeutigen Mordermittlung, sondern ein raffiniert verschachteltes Spiel mit Wahrnehmung, Täuschung und psychologischer Manipulation. Poirot muss sich nicht nur mit Verdächtigen, sondern auch mit den eigenen Unsicherheiten auseinandersetzen, während Norma als Figur zwischen Opfer- und Täterrolle balanciert.

Christie zeigt hier eine große Meisterschaft in der Figurenzeichnung: Jede Person ist mehr als sie auf den ersten Blick scheint, und das Netz aus Intrigen wird mit jedem Kapitel dichter. Die Auflösung ist – wie immer – brillant konstruiert, doch es ist vor allem die psychologische Tiefe, die diesen Roman so besonders macht.

Für Christie-Fans, die Freude an komplexen Charakteren und psychologischen Feinheiten haben, ist Die vergessliche Mörderin ein echtes Highlight. Ein Krimi, der nicht nur mit Logik, sondern auch mit menschlicher Wahrnehmung spielt – und der beweist, dass Poirot auch im fortgeschrittenen Alter unübertroffen bleibt.

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Sandra Doods schreibt als Buchbloggerin unter dem Pseudonym Frau Pastell über Gegenwartsliteratur auf Instagram und ihrem eigenen Blog. Als Doktorandin forscht und schreibt sie aktuell im Bereich Digitalität und Literatur. Sie unterstützt als Lektorin für Abschlussarbeiten Studierende dabei, ihre wissenschaftlichen Arbeiten sprachlich und inhaltlich zu optimieren. Ihr Studium der Fächer Deutsch und Psychologie an der TU Dortmund hat ihr dabei geholfen, ein tiefes Verständnis für die menschliche Psyche und Sprache zu entwickeln, das sie in ihrer Arbeit als Lektorin, Doktorandin und Buchbloggerin einsetzt. Als Teil der Bloggerjury des Literaturpreises "Das Debüt" engagiert sich Sandra Doods aktiv für die Förderung angehender Autorinnen und Autoren und unterstützt diese bei ihren ersten Schritten im Literaturbetrieb. In ihrer Freizeit liest Sandra Doods vor allem psychologische Romane und klassische Krimis. Neben ihrem literarischen Interesse beschäftigt sie sich mit der Programmierung von Apps und interessiert sich für interdisziplinäre Themen, insbesondere für die Verbindung von Literatur, Psychologie und Digitalität.

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