Rezension

Die nicht zersägte Jungfrau – “Daheim” von Judith Hermann mit dem Gedanken was passiert, wenn etwas nicht passiert

Nicht erst seit dem Einzug ihres Kurzgeschichtenbandes “Sommerhaus, später” (1998) in die gymnasiale Pflichtlektüre in NRW ist der Name Judith Hermann in der Literaturszene bekannt. Für ihre Werke wurde sie mit zahlreichen Preisen geehrt, wie dem Friedrich-Hölderlin-Preis und dem Kleist-Preis. Ihr neuer Roman “Daheim” schlägt leise Töne an, die Resonanz ist aber umso lauter.

Die unbenannte Ich-Erzählerin lebt ein monotomes Leben als Zigarettensortiererin am Fließband in einer Großstadt. Eines Tages begegnet sie einem Fremden, der ihr ein unglaubliches Angebot macht: Als Zauberer suche er eine Assistentin, die in als “zersägte Jungfrau” auf einer Kreuzfahrtreise nach Singapur begleitet. Die Chance ihrer Lebens, dem grauen Alltag zu entfliehen. Sie besucht den Magier für einen Probeauftritt und sie vereinbaren Tag und Uhrzeit der Abreise. Doch als der Tag gekommen ist, bleibt sie Daheim… Jahre später blickt sie auf diesen Moment zurück, der ihr Leben in eine völlig andere Bahn hätte lenken können.

“Und einen Moment später dachte ich, ich wäre tatsächlich in zwei Hälften geteilt – nicht körperlich, eher im Kopf. Vielleicht im Herzen.”

Judith Hermann, Daheim, S. 21.

Minimalistischer Dorfroman

Judith Hermann schafft eine medidative Stimmung der ruhigen Nachdenklichkeit in ihrem Roman. Das wirkte auf mich nicht nur ansprechend, sondern auch befreiend. Wenn wenig wichtig ist, ist man um viel unnötigen Balast leichter – so könnte man das Motto des Romans bezeichnen. Mit einer kurzen präzisen Sprache, wenigen zentralen Figuren und einem minimalistischen Dorfsetting bringt Hermann die nötige Ruhe in den Roman und zugleich in den Leser/die Leserin.

“Ich lag auf dem Rücken, ich hatte die Hände über dem Bauch gefaltet, die Knie seitlich angezogen. Seitdem ich denken kann, habe ich die Fähigkeit, mich in mich selbst zurückzuziehen, eine Schnecke, die in ihr Haus kriecht, eines dieser Spinnentiere, das sich zu einer Kugel zusammenrollt.”

Judith Hermann, Daheim, S. 21.

Fazit: Was passiert, wenn es nicht passiert

Der Roman startet überraschend. Mit dem Nicht-Antritt der abenteuerlichen Singapurreise als zersägte Jungfrau in einer Zaubershow hätte wohl niemand gerechnet. Hier aber setzt der Roman erst ein und zeigt, was passiert, wenn etwas nicht passiert. Wie geht das Leben weiter? Im minimalistischen Stil vermittelt der Roman eine angenehme Ruhe und selbstreflektive Stimmung. Wem – wie mir – diese Stimmung liegt und gut tut, dem ist dieser Roman unbedingt zu empfehlen!

“Ich sage, diese Frau hat mir erzählt, dass sie trotzdem noch Jahre später das Gefühl hatte, etwas von sich in dieser Kiste verloren zu haben. Sie hatte das Gefühl, ein Teil von ihr läge immer noch darin, ein wesentlicher und nicht zu benennender Anteil.”

Judith Hermann, Daheim, S. 186.

Blick ins Buch? Zur Leseprobe der ersten Seiten.

Sandra Doods schreibt als Buchbloggerin unter dem Pseudonym Frau Pastell über Gegenwartsliteratur auf Instagram und ihrem eigenen Blog. Als Lektorin für Abschlussarbeiten unterstützt sie Studierende dabei, ihre wissenschaftlichen Arbeiten sprachlich und inhaltlich zu optimieren. Ihr Studium der Fächer Deutsch und Psychologie an der TU Dortmund hat ihr dabei geholfen, ein tiefes Verständnis für die menschliche Psyche und Sprache zu entwickeln, das sie in ihrer Arbeit als Lektorin und Buchbloggerin einsetzt. Als Teil der Bloggerjury des Literaturpreises "Das Debüt" engagiert sich Sandra Doods aktiv für die Förderung angehender Autorinnen und Autoren und unterstützt diese bei ihren ersten Schritten im Literaturbetrieb. In ihrer Freizeit liest Sandra Doods vor allem psychologische Romane und klassische Krimis. Neben ihrem literarischen Interesse beschäftigt sie sich mit der Programmierung von Apps und interessiert sich für interdisziplinäre Themen, insbesondere für die Verbindung von Literatur, Psychologie und Digitalität.

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